Abfahrt in 29 Minuten?
Mist, Mist, Mist, Mist, Mist!
Keuchend stand ich auf dem verdächtig leeren Bahnsteig, den vollgestopften Rucksack auf dem Rücken, die prall gefüllte Laptoptasche in der einen, den schweren Korb in der anderen Hand. Und nun brach mir auch noch in der schwülen Tunnelluft der S-Bahnstation der Schweiß unter der dicken Jacke aus, die mir gerade eben auf dem Weg vom Büro durch den kalten, nassen Vorfrühlingsabend zur Bahn noch gute Dienste geleistet hatte.
Verdammt!
Das durfte doch nicht wahr sein!
Nur weil mein word- und tabellenlegasthenischer Chef kurz vor Feierabend unbedingt noch ein Dokument formatiert haben wollte, weil er, Trottel der er ist, mal wieder die Formatierung nicht gerafft und die im Hintergrund liegende Tabelle geschrottet hatte, durfte ich mal wieder Überstunden machen und das Ergebnis seiner Inkompetenz wieder geradebiegen. Damit war die Chance, meinen üblichen Zug zu nehmen, von vornherein dahin gewesen. Da zu der Formatierung so ganz nebenbei auch noch eine Korrektur in Sachen Rechtschreibung und Grammatik gekommen war, konnte ich auch die gewohnte Alternative vergessen.
Endlich, anderthalb Stunden nachdem ich eigentlich hatte aufbrechen wollen, schaffte ich es, in Richtung Fahrstuhl zu entschwinden – nur, um in nahezu jedem verdammten Stockwerk auf dem Weg nach unten zu halten und Schlipsträger verschiedener Kategorien einzusammeln. Kurzzeitig hatten mich die sozialen Studien anhand der diversen Anzugmaterialien und -schnitte von meinem Ärger und dem Gewicht meines Gepäcks abgelenkt. Aber wirklich nur kurz. Mich zwischen asiatischen Touristen und überstylten Yuppies durchschlängelnd, hetzte ich an Bars und Geschäften vorbei zur Rolltreppe, auf deren regenfeuchtem Kopfende ich prompt in meinen Büro-Tussi-Schühchen ausgerutscht war und den Weg in den Untergrund beinahe im Flug bewältigt hätte. Mit Jürgen von der Lippe und seinem Bettvorleger im Sinn war ich schließlich mit schmerzenden Füßen und abgestorbenen Fingern durch das übliche Gewühl von Ethnien, Gerüchen und mehr oder weniger legalen Tätigkeiten zur nächsten Treppe gerannt, diese ebenfalls fast hinunter gesegelt – nur um festzustellen, dass mir meine Bahn soeben vor der Nase weggefahren war.
„Fuck!“
Empört drehte sich die ältere Dame vor mir um, ließ den Blick über meinen derangierten Zustand schweifen, hob die Nase wieder zurück in die leicht erhöhte Ausgangsposition und entfernte sich so gut sie konnte von meiner vollgeregneten, verschwitzten und zerzausten Gegenwart.
Was nun? Sollte ich hier wirklich eine halbe Stunde rumsitzen und warten? Es war doch sowieso schon so spät! Nein, da musste es noch eine bessere Möglichkeit geben. Ich stellte den schweren Korb ab und fischte mit tauben Fingern nach meinem Handy. Fingerabdruckerkennung mit verschwitzten Händen? Natürlich nicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Also die PIN. Jetzt die Bahn-App... Komm, lade endlich... Natürlich war das Netz in der S-Bahnstation dieser Weltstadt grottig. Was auch sonst? Genau in dem Moment, als die nächste Bahn einfuhr, sagte mir die App endlich, welche Möglichkeiten ich hatte nach Hause zu kommen, bevor ich hier Wurzeln schlagen würde. Perfekt. Ich schnappte mir meinen Gewichtheber-Korb und sprang durch die bereits piepende und sich schließende Tür in den Zug. Uff. Natürlich war das Abteil brechend voll. Aber das spielte ausnahmsweise keine große Rolle, da ich zwei Stationen später bereits wieder in den Genuss von Sauerstoff kam, den ich mir dann auch beim Sprint über zwei Geschosse zum angegebenen Gleis für den Umstieg zur Regionalbahn reichlich in die Lunge pumpte. Beinahe schlitternd erreichte ich Gleis 22, warf einen kurzen Kontrollblick auf die Anzeige – und legte eine Vollbremsung hin.
„RE2 nach Koblenz, Abfahrt 18:44 Uhr – Gleiswechsel-heute von Gleis 1a“
Gottverflucht nochmal! Automatisch wandte ich mich in Richtung des anderen Endes des Bahnhofes und beschleunigte, nur um kurz danach erneut gotteslästerlich fluchend wieder stehenzubleiben. Es hatte keinen Sinn. Ich hatte keine zwei Minuten mehr, um auf meinen Tussi-Schühchen und mit dem ganzen Krempel, den ich ausgerechnet heute mit mir rumschleppen musste, ganz an das entgegengesetzte Ende des Bahnhofes zu gelangen. Keine Chance.
Schwitzend, frustriert und fluchend stand ich wie ein Fels in der Brandung inmitten der umherhastenden Menschen.
Jemand berührte mich am Arm.
„WAS?“, fuhr ich wütend herum. Konnten die Deppen nicht einfach einen Bogen machen?
Und da stand er.
Fassungslos starrte ich den Mann an, den wiederzusehen ich mir seit nunmehr fast sieben Jahren gewünscht hatte und der nun auf seine jungenhafte Art auf mich herab grinste, als ob nie etwas gewesen wäre.
„Hallo Cat.“
Oh Gott, diese Stimme.
In diesem Moment war mein Kopf einfach nur leer. Wortlos starrte ich ihn an. Vermutlich stand auch mein Mund ein bisschen offen, denn ich wusste, ich sollte etwas sagen. Aber es kam einfach nichts heraus.
„Katharina, alles in Ordnung?“
„Was machst Du hier?“, platzte es endlich aus mir heraus.
Toll. Ganz toll. Die dämlichste Frage aller Zeiten. Ich hätte mich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Wie konnte man nur so doof sein?
Jahrelang hatte ich mir vorgestellt wie es wäre, wenn wir uns irgendwann zufällig wiedersehen würden.
Vielleicht würde ich mit Kollegen oder Freunden in einem Restaurant sitzen, natürlich würde ich toll aussehen. Ich hätte abgenommen, meine Haare wären gut geschnitten und wunderbar fluffig, ich hätte etwas Schickes an, würde elegant und selbstbewusst wirken. Lachend würde ich mich mit meinen Leuten unterhalten. Ich wäre glücklich und das würde man mir auch ansehen. Er würde mich ansprechen, vielleicht hätte er dabei auch seine Frau am Arm. Egal. Ich würde mich kurz bei meinen Begleitern entschuldigen, mich elegant erheben und in göttlicher Sexyness auf ihn zu schweben. Wir würden uns kurz unterhalten, dabei wäre ich unglaublich eloquent und geistreich. Ich wäre schön und glücklich und perfekt. Er würde es zutiefst bereuen, mich weggeworfen zu haben wie ein paar ausgelatschter Schuhe.
Stattdessen stand ich vor ihm wie ein begossener Pudel. Müde von einem langen Tag, verschwitzt von der Rennerei und genervt von dem verkomplizierten Heimweg; vermutlich sah man mir die Schmerzen, in den Händen vom Schleppen des Korbes und in den Füßen von den blöden Tussi-Latschen, auch an.
Wie oft hatte ich mir gewünscht, ihn zu treffen. Hatte mich in Gegenden oder Läden, in denen er sich potenziell aufhalten könnte, unauffällig umgesehen und darauf geachtet, mich gerade zu halten, die Füße ladylike zu setzen und meine Kleidung geordnet. Hatte mir sogar im Geiste Worte zurechtgelegt.
Und nun?
Ich fühlte mich wieder wie der dumme Trampel von damals.
Klamotten, Haare, Auftreten: Sechs. Setzen.
Reflexartig, als ob es die letzten beinahe sieben Jahre nicht gegeben hätte, führte ich eine Selbstdiagnose à la Data durch:
Frisur: null
Augenbrauen: null
Achselhöhlen: eins
Fingernägel: null
Bauch: ERROR
Intimbehaarung: null
Beine: null
Füße: eins
Unterwäsche: oben eins; unten... äh... vorhanden – also null; Baumwollslip, der definitiv schon bessere Zeiten gesehen hat – also minus zehn
Tolle Quote! Peinlich.
Noch viel peinlicher war allerdings, dass ich mir darüber überhaupt Gedanken machte! Mannomann. So ein Blödsinn! Schon wieder hätte ich mir selbst in den Hintern treten können. Was sollte das alles!? Ganz abgesehen davon, dass er die fraglichen Körperteile größtenteils sowieso nicht zu sehen bekam, weil es ihn rein gar nichts mehr anging, durfte es einfach nicht sein, dass ich automatisch in den Subbie-Modus verfiel, nur weil ich ihn nach so langer Zeit zufällig auf dem Bahnhof traf. Soviel Selbstwertgefühl sollte ich doch wenigstens haben, oder nicht? Reiß‘ Dich zusammen, Cat!
„Hey, wirklich alles okay mit Dir?“, hakte er in leicht besorgtem Ton nach.
„Ja, ja, alles ok. Du hast mich einfach nur kalt erwischt. Alles gut. Hi!“, brachte ich nun endlich mit einem leicht bemühten Grinsen heraus.
Na also, geht doch. Für einen kurzen Moment standen wir uns einfach nur gegenüber und schauten uns an. Dann schien auch er sich zu berappeln.
„Wie sieht’s aus, hast Du ein bisschen Zeit?“
Hatte ich? Wollte ich?
„Ähm... naja... also eigentlich... Weißt Du was, lass mich kurz telefonieren, ja?“, fragte ich, während ich schon Korb und Tasche abstellte und mein Handy aus der Tasche zog.
Klasse. Schwer zu kriegen sieht ja wohl anders aus.
Über Kurzwahl wählte ich Alex an.
„Hi! Du, ich steh hier noch am Hauptbahnhof. Der Trottel vom Dienst hatte kurz vor Feierabend noch einen Sonderauftrag, dann hab ich die S-Bahn verpasst und nun hab ich jemanden getroffen. Wir würden gern noch ein bisschen quatschen.“
„Wen denn?“, kam es eher nebenher als wirklich neugierig von Alex zurück.
Er war wohl abgelenkt.
„Da kommst Du nie drauf!“
Nun hatte ich seine Aufmerksamkeit.
„Kenne ich denjenigen auch?“
„Ja. Es ist Johannes.“
Kurz war es am anderen Ende der Leitung still. Dann kam es vorsichtig von Alex:
„Geht es Dir gut?“
In diesem Moment liebte ich ihn wohl mehr als je zuvor.
Welcher andere Mann würde in dieser Situation so etwas fragen?
„Ja, Schatz, alles ok“, versicherte ich ihm, obwohl ich mir diesbezüglich alles andere als sicher war. „Bist Du Dir sicher?“ Sein Ton war leicht besorgt.
Womit hatte ich dieses Goldstück von Ehemann nur verdient?
„Ganz ehrlich? Nein, bin ich nicht. Aber ich möchte es trotzdem. Ist das in Ordnung für Dich?“
„Ja, klar. Lass Dir Zeit. Und sag Bescheid, wenn ich Dich irgendwo abholen soll, okay?“
Alex, Du Engel.
„Mach ich. Danke Dir! Du bist ein Schatz. Ich hab Dich lieb!“
„Ich Dich auch. Pass auf Dich auf!“
„Geht klar. Bis später!“
„Bis dann“, verabschiedete Alex sich und legte auf.
Ich wandte mich wieder zu Jo um.
„Alles klar, wir können.“
Er griff nach dem Korb und wir wären fast mit den Köpfen zusammengestoßen, als ich gleichzeitig nach der Laptoptasche griff.
„Dann los“, meinte er lachend und marschierte zielstrebig in Richtung des Bahnhofsinneren.
„Was hast Du denn in diesem Korb? Pflastersteine? Das Ding ist ja sauschwer!“, beschwerte er sich und schaute entgeistert hinab auf das corpus delicti.
Wie gern hätte ich ihm darauf eine spannende Antwort gegeben. Irgendetwas Wichtiges oder Kreatives. Die ersten Verkaufsexemplare meines eigenen Buches vielleicht? Bedauerlicherweise war die Antwort noch nicht mal annähernd so cool.
„Ach, das ist nur der Kram, den ich für das Homeoffice mit nach Hause nehmen musste. Ein paar Unterlagen und Bücher. Leider nichts Spannendes“, musste ich gestehen. „Wohin willst Du eigentlich?“
„Naja“, meinte er, „das Nächstgelegene was mir einfiel und wo man sich nicht die Füße abfriert, ist die DB-Lounge.“ Unsicher fragend schaute er zu mir hinunter. „Ist das okay für Dich?“
„Du kennst die DB-Lounge?“, rutschte es mir verblüfft heraus. „Dafür braucht man ein 1. Klasse-Ticket oder eine BahnCard 100!? Oder man muss haufenweise Meilen sammeln...“
Super. Und schon ließ ich wieder das Aschenputtel raushängen. Wann würde das je aufhören? „Stimmt“, meinte er grinsend.
„Aber Du hasst Bahnfahren!?“
„Das weißt Du noch?“, fragte er mit einem merkwürdigen Unterton und schaute mich dabei ebenso merkwürdig an.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder losheulen sollte. Natürlich wusste ich das noch!
Egal, wie sehr ich es versucht hatte – ich hatte nichts, absolut gar nichts, vergessen. Es war, als ob die Jahre, die wir gemeinsam verbracht hatten, Sekunde für Sekunde in meinem Gedächtnis eingebrannt waren.
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